DIE KLANGWELT ANTONS BRUCKNERS

 
Wenn ich nach dem Seminar einen Abschlussbericht verfasse, empfinde ich jeweils ein leises Gefühl der Wehmut, weil das Seminar vorbei ist. Umgekehrt bietet mir das Schreiben jedoch die Möglichkeit, das Erlebte zu erinnern und zu verinnerlichen.

Abschied nehmen hat immer auch einen Anteil „Endgültiges“, Abschied nehmen ist immer auch ein wenig sterben. „Alles Morgen ist verhangen“ schreibt Lorenzo, il Magnifico, in einem Gedicht.

Das Seminar

Acht Teilnehmende beschäftigen sich während anderthalb Tagen intensiv mit der „Klangwelt von Anton Bruckner“. Das Fazit des Seminars vorausgenommen heisst: Die Musik Anton Bruckners ist nicht ohne viel „Einsatz zu haben“, aber wer den Einsatz erbringt, wird durch ihre Tiefe und ihren Reichtum für jede Anstrengung vollauf entschädigt.

Samstagvormittag

Das Seminar beginnt mit der Motette „Locus iste“ von Anton Bruckner, ein Musikstück von rund drei Minuten Dauer. Bruckner komponiert die vierstimmige Motette im Jahre 1869 für die Einweihung der Votivkapelle des neuen Doms in Linz.

Der Text der Motette beruht auf einer Bibelstelle aus dem Buche Genesis, die von der Reise Jakobs von Beerscheba nach Haran zu seinem Onkel Laban berichtet. Wie es Nacht wird, sucht er einen Stein und legt sein Haupt darauf, um zu schlafen. In der Nacht hat er den berühmten Traum von der „Himmelsleiter“, auf der Engel auf- und herniedersteigen. Und wie er aufwacht, spricht er: „Quam terribilis est locus iste“, wie „schrecklich ist dieser Ort“. Darauf nimmt er den Stein, auf dem er geschlafen hat, setzt ihn als Gedenkstein und nennt den Ort Bet-El, Gotteshaus.

Der Text am Anfang wird gekürzt und am Ende ergänzt und lautet bei Bruckner: „Locus iste a deo factus est inaestimabile sacramentum irreprehensibilis est“. Dies bedeutet auf Deutsch „Dieser Ort ist von Gott geschaffen, ein unschätzbares Geheimnis, kein Fehl ist an ihm“. Bruckner schafft daraus ein schlichtes, ergreifendes Stück Musik, das heute besonders bei Kirchweihfesten oft aufgeführt wird.

Wegen der Kürze und der Schlichtheit des Stücks eignete sich das Werk gut für einen Eintritt in die „Klangwelt Bruckners“ und konnte von uns Teilnehmenden während der Vormittagsstunden erfasst und auch melorhythmisch eingeübt werden.

Samstagnachmittag

Der Nachmittag wird zur harten Herausforderung; wir beschäftigen uns mit dem 1. Satz der 4. Symphonie von Anton Bruckner. Schon allein die Dauer des Stücks mit 17 Minuten stellt einen grossen Anspruch an das bewusste Hören. Wie es anschliessend darum geht, den Satz zu erarbeiten, kostet dies viel Konzentration und Zeit; durch Renate Schwabs kluge Führung entdecken wir schliesslich als Gliederungsstruktur eine Art „Sonatensatz“: Eine Exposition mit drei Themen; nach einer „Transition“ die Durchführung und abschliessend die Reprise mit einer Coda


Die eingescannte „bildliche Umsetzung“ der Übersicht der Exposition zeigt augenfällig wie komplex und vielschichtig Anton Bruckners „Klangwelt“ ist.

Dr. Robert Walpen

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